«Wir müssen Frauen besser über spezifische Risikofaktoren informieren»

03. Dezember 2024 | Kommentar(e) |

Martin Kamber

Fehlende Daten, aber auch fehlende Sensibilität hüben wie drüben. Die Kardiologinnen Dr. Elena Tessitore und Dr. Susanna Grego erklären, warum klinische Daten zur Gesundheit von Frauen rar sind und welche Auswirkungen sich aus diesem sogenannten «Gender-Data-Gap» ergeben.

Es kommt immer wieder vor, dass Anzeichen einer Herzerkrankung bei Frauen falsch gedeutet oder erst gar nicht erkannt werden.

Das Phänomen ist bekannt, und als Ursache wird gerne auf den «Gender-Data-Gap» verwiesen. Gerade die Herzerkrankungen stehen in diesem Zusammenhang besonders im Fokus. Ein Beispiel: Beim Herzinfarkt ist ein stechender Brustschmerz mit Ausstrahlung in den linken Arm bei Männern und Frauen zu beobachten. Letztere klagen daneben auch oft über Übelkeit, Schwindel und Kurzatmigkeit. Als Leitsymptom gemäss ESC (European Society of Cardiology) gilt aber der akute Thoraxschmerz.

«Gender-Data-Gap»: Was ist das?
Wie äussern sich Krankheiten bei Frauen, welche spezifischen Nebenwirkungen rufen Medikamente hervor, wie hoch muss die Dosierung sein? Antworten auf solche und weitere Fragen liefern klinische Studien. Doch Frauen sind darin seit jeher massiv untervertreten. Die Folgen sind dramatisch: Heute sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache bei Frauen, während ihr Anteil bei Männern seit den 1980er Jahren stetig gesunken ist. Immer noch liegt der Anteil der Frauen, die an entsprechenden Studien teilnehmen, bei lediglich 24 Prozent.

Die Kardiologinnen Dr. Elena Tessitore und Dr. Susanna Grego sind mit den geschlechtsspezifischen Symptomen von Herzerkrankungen tagtäglich konfrontiert. Im Gespräch weisen sie darauf hin, dass fehlende Daten aus klinischen Studien als Teil eines grösseren Problems betrachtet werden müssen:

Welche Änderungen würdest du dir in der Arbeitswelt wünschen?

Dr. med. Susanna Grego, Fachärztin in der Abteilung für seltene Herz-Kreislauf-Erkrankungen am Istituto Cardiocentro Ticino in Lugano / Dr. med. Elena Tessitore, Kardiologin und Leiterin des Programms für stationäre kardiale Rehabilitation an den Universitätsspitälern Genf (HUG)

Woher rühren die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten auf dem Gebiet der Herzerkrankungen?

Dr. med. Susanna Grego: In erster Linie haben wir zu wenige belastbare Resultate aus klinischen Studien mit Probandinnen, den Gender-Data-Gap gibt es also zweifellos. Und dann sind Forschende auch mit ganz praktischen Problemen konfrontiert. Ein Beispiel: Bei Studien greift man häufig auf Nagetiere zurück, aber anders als Säugetiere kommen diese nicht in die Wechseljahre, sodass die Aussagekraft der Ergebnisse beschränkt ist.

Frauen wurden lange von klinischen Studien, insbesondere von Medikamententests, ausgeschlossen. Geht der Gender-Data-Gap darauf zurück?

Dr. med. Elena Tessitore: Das spielt sicher eine Rolle. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass sich Frauen viel schwerer für klinische Studien rekrutieren lassen als Männer. Speziell im Alter von 25 bis 45 Jahren steht für viele die Mutterschaft im Vordergrund. Ausserdem machen sich Frauen mehr Sorgen über Risiken und Komplikationen, die mit der Teilnahme an einer klinischen Studie verbunden sein können.

Sehen Sie vor diesem Hintergrund überhaupt eine Chance, Frauen zur Teilnahme an klinischen Studien zu bewegen und so den Gender-Data-Gap zu verkleinern?

Dr. med. Elena Tessitore: Wenn auf die besonderen Anliegen, die Frauen an die Thematik herantragen, geachtet wird, sehe ich durchaus eine Chance. Frauen haben in der Regel mehr Fragen als Männer – zu möglichen Auswirkungen einer Studienteilnahme auf ihre Gesundheit, zur Wechselwirkung mit anderen Medikamenten oder zum Stillen. Eine Schlüsselrolle kommt deshalb den Study Nurses zu, die Frauen für gewöhnlich rekrutieren. Sie müssen sich die Zeit nehmen, auf Bedenken einzugehen.

«Frauen haben in der Regel mehr Fragen als Männer – zu möglichen Auswirkungen einer Studienteilnahme auf ihre Gesundheit, zur Wechselwirkung mit anderen Medikamenten oder zum Stillen.»
Dr. med. Elena Tessitore

Nehmen wir an, es gelänge, mehr Frauen zu einer Studienteilnahme zu bewegen: Problem gelöst?

Dr. med. Susanna Grego: Ich fürchte nein. Auch wenn Frauen in klinische Studien einbezogen werden, kommt es leider häufig vor, dass Forschende gewisse statistische Analysen auf die gesamte Stichprobe anwenden und so die Unterschiede zwischen den Geschlechtern eliminieren. Warum? Es ist schlicht teurer, zwei Medikamente zu entwickeln, eines für Männer und eines für Frauen. Statt die Besonderheiten der weiblichen Physiologie als Faktor zu berücksichtigen, werden diese in Studienergebnissen oft nur mit einem Vermerk versehen.

Machen wir den Schritt in die Praxis: Wo liegen die Herausforderungen in der Diagnose von Herzerkrankungen bei Frauen?

Dr. med. Elena Tessitore: Ein Herzinfarkt kann sich bei Frauen in atypischen Symptomen manifestieren. Auch die Herzinsuffizienz, insbesondere jene mit erhaltener Auswurffraktion [Prozentsatz des Blutes in einer Herzkammer, der pro Schlag ausgestossen wird, die Red.] ist bei Frauen häufiger als bei Männern. Diese tritt normalerweise im fortgeschrittenen Alter auf. Ferner unterscheidet sich die Pathophysiologie beider Geschlechter: Frauen haben kleinere und steifere Herzkammern – die linke Kammer ist zudem anders geformt.

Dr. med. Susanna Grego: Die Menopause, die ihrerseits ein zusätzliches Risiko für Herzerkrankungen darstellt, und die Hormonersatztherapie fügen der Diagnose und der Behandlung von Herzerkrankungen bei Frauen eine zusätzliche Ebene der Komplexität hinzu.

Mangelt es dem Fachpersonal also an Bewusstsein für spezifisch weibliche Krankheitssymptome?

Dr. med. Elena Tessitore: Ja. Ärzte sind in der Regel wenig für die Besonderheiten von Herzproblemen bei Frauen sensibilisiert. Webinare und Schulungen wie jene von GEMS geben da Gegensteuer, und auch spezifische Studiengänge für Medizinstudierende sind wichtig.

«Die Menopause und die Hormonersatztherapie fügen der Diagnose und der Behandlung von Herzerkrankungen bei Frauen eine zusätzliche Ebene der Komplexität hinzu.»
Dr. med. Susanna Grego

Was raten Sie Frauen, die sich von der Medizin missverstanden fühlen?

Dr. med. Susanna Grego: Frauen dürfen und sollen hohe Ansprüche an ihre Ärzte stellen und nicht zögern nachzuhaken, wenn sie sich missverstanden fühlen, wenn zum Beispiel Herzklopfen vorschnell mit einem Angstzustand in Verbindung gebracht wird. Es braucht auf beiden Seiten die Bereitschaft zum Austausch. Und Angstzustände sollten im Übrigen von einem Psychiater und nicht von einem Hausarzt diagnostiziert werden.

Braucht es im Zusammenhang mit der Rehabilitation nach einem akuten Herzleiden mehr spezifische Unterstützung für Frauen?

Dr. med. Elena Tessitore: Frauen nehmen weniger häufig an kardialen Rehabilitationsprogrammen teil als Männer. Manche geben an, sich im Fitnessstudio nicht wohlzufühlen, anderen fehlt die Zeit. In den meisten Haushalten sind es immer noch die Frauen, die den Grossteil der Hausarbeit und der Kinderbetreuung übernehmen, daher kann es schwierig sein, Übungen zur Sekundärprävention in den Alltag zu integrieren. Mit frauenfokussierten Übungsprogrammen wie Zumba oder Yoga und flexiblen Arbeitszeiten wäre viel erreicht

Welche Massnahmen empfehlen sie zur Prävention?

Dr. med. Susanna Grego: Dazu kann ich auf die Situation in Italien verweisen, die ich aus persönlicher Erfahrung kennen. Dort gibt es Angebote zur Früherkennung, wie wir es bei Brustkrebs kennen, auch für die Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In Italien brauchen Sie zudem ein ärztliches Attest, wenn Sie Sport treiben oder ins Fitnessstudio gehen. Risikopersonen – Frauen und Männer – können so frühzeitig erkannt, über ihre Risiken aufgeklärt und nachbehandelt werden. Ein solcher Ansatz wäre auch für die Schweiz sehr vorteilhaft.

Dr. med. Elena Tessitore: Aufklärung ist das A und O. Wir müssen es schaffen, Frauen besser über spezifische Risikofaktoren zu informieren, die mit Schwangerschaftsdiabetes, Eklampsie, dem Alter bei der ersten Menstruation und der Menopause zusammenhängen, während wir die «klassischen» Risikofaktoren nicht vergessen: Blutdruck, Rauchen, Familiengeschichte, Stress, ein hoher Cholesterinspiegel, Bewegungsmangel und Diabetes.

Mehr zum Engagement der Groupe Mutuel für die Frauengesundheit:
Tech4Eva, das Femtech Start-up Accelerator-Programm in Zusammenarbeit mit dem EPFL Innovation Park Healthcare-Professionals-Initiative des Galenica-Netzwerks

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