«Ein ganzheitlicher Umgang mit Endometriose ist wichtig – damit die Krankheit nicht das Leben bestimmt»
30. April 2024 | Kommentar(e) |
Lisa Flückiger
Obwohl Endometriose einer der häufigsten gynäkologischen Erkrankungen ist, vergehen im Schnitt immer noch 7-10 Jahre bis Betroffene eine Diagnose erhalten. Dr. med. Simone Kamm, Stv. Leiterin des Endometriosezentrums des Spital Limmattal, erklärt uns, worum es bei dieser Krankheit geht und bei welchen Symptomen Frauen ärztlichen Rat holen sollten.
Groupe Mutuel: Frau Dr. Kamm, was genau ist Endometriose?
Frau Dr. Kamm: Normalerweise bildet sich in der Gebärmutterhöhle jeden Monat eine Schleimhaut. Sie ist die Grundlage für eine Schwangerschaft bzw. die Monatsblutung. Bei der Endometriose sind die Zellen, die diese Schleimhaut bilden, nicht da, wo sie hingehören. Sie sind am falschen Ort, meistens im Unterbauch. Dort machen sie im Prinzip genau das Gleiche: Sie bilden eine Schleimhaut und verursachen eine Blutung – beides einfach in einer "sehr kleinen" Ausführung. Dies genügt jedoch, um eine Reizung zu verursachen, eine chronische Entzündung im Gewebe.
Die Ursache der Endometriose-Krankheit ist bislang unbekannt. Klar ist, dass die Endometriose-Zellen, genauso wie die Schleimhautzellen in der Gebärmutterhöhle, auf die weiblichen Hormone reagieren – Östrogen ist sozusagen das „Futter" der Endometriose.
Wieso wird Endometriose bei vielen Frauen so spät entdeckt?
Eine der Hauptursachen ist die Tatsache, dass die Beschwerden sehr unterschiedlich sind. Sie reichen von stärksten Schmerzen bis hin zu leichten Darmbeschwerden oder einer ausgeprägten Erschöpfung. Man nennt die Krankheit deshalb auch ein Chamäleon.
Oft sind verschiedene Untersuchungen unauffällig, was die Krankheit jedoch in keiner Weise ausschliesst. Es verleitet jedoch dazu, die Beschwerden nicht ernst zu nehmen. Darüber hinaus gehören Periodenschmerzen und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr zu den häufigsten Symptomen einer Endometriose. Es sind Symptome, die leider lange tabuisiert oder als normal betrachtet wurden und immer noch werden – sogar von Fachpersonen.
Bei welchen Symptomen sollte ich mich an eine/n Endo-Spezialisten wenden?
Periodenschmerzen, die mit ein bis zwei Tabletten eines geeigneten Schmerzmittels gut behandelt werden können, sind sehr häufig und kein Warnzeichen. Periodenschmerzen, die trotz der Maximaldosis an Schmerzmitteln zu Schul- und Arbeitsausfall führen, sind nicht mehr normal und sollten weiter abgeklärt werden. Auch chronische Bauch- oder Darmbeschwerden ohne klare Diagnose sollten auf Endometriose hin überprüft und untersucht werden. Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder ungewollte Kinderlosigkeit sind ebenfalls Gründe für weitere Abklärungen.
Wie geht es Betroffenen und was raten Sie ihnen?
Endometriose ist eine chronische Krankheit mit zermürbenden, wiederkehrenden Schmerzen. Das Wohlbefinden und die Lebensqualität können stark eingeschränkt sein. Die Krankheit hat Einfluss auf unzählige Aspekte des Lebens: die Beziehung, die Sexualität, die Familienplanung, die Ausbildung, die Arbeit, die Freundschaften, die Freizeit: Sie bestimmt das Leben.
Die schulmedizinische Therapie allein ist leider nicht immer zufriedenstellend. Umso wichtiger sind andere, alternative Therapien wie Sport, Ernährung, Physiotherapie, Yoga, Sexualtherapie, Selbsthilfegruppen oder eine psychologische Begleitung. Im gesamtheitlichen Behandlungskonzept ist die Psyche ein extrem wichtiger Bestandteil. Sie kann helfen, die Krankheit ins Leben zu integrieren und „Frau“ über die Endometriose zu werden. Alles was hilft, ist gut! – Selbst wenn es wissenschaftlich noch nicht bewiesen wurde.
Was können Endometriose-Betroffene mit Kinderwunsch tun?
Abklärungen im Zusammenhang mit ungewollter Kinderlosigkeit gehören in spezialisierte Hände. Es ist wichtig, je nach Alter möglichst wenig Zeit zu verlieren, um die bestmögliche Information und Unterstützung zu erhalten. Die enge Zusammenarbeit der Spezialistinnen und Spezialisten, zum Beispiel an einem Endometriose- oder Kinderwunschzentrum, ist enorm wichtig. Und wenn frau die Wahl hat: Warten Sie nicht zu lange mit der Erfüllung Ihres Kinderwunschs.
Haben Sie einen Tipp für den Umgang mit den Schmerzen im Alltag?
Eines der wichtigsten Ziele der Therapie bei Endometriose ist es, chronische Schmerzen zu verhindern! Wiederkehrende Schmerzen verursachen eine ganze Reihe von Veränderungen im Nervensystem, bis sich schliesslich das Gehirn anpasst und die Schmerzempfindung und -verarbeitung nachhaltig verschlechtert. In solchen chronischen Situationen ist es unheimlich schwierig, den Patientinnen zu helfen.
Gibt es alternative Therapien zu Hormonbehandlungen?
Hormonbehandlungen haben es im Moment weltweit sehr schwer. Ein wichtiger Grund dafür sind die stetig zunehmenden Aktivitäten auf den Social Media-Kanälen. Die Akzeptanz gegenüber der Pille und Hormonen ist in der Folge stark gesunken. Meiner Meinung nach ist das im Falle einer Verhütungsmethode teils ok und vertretbar.
Im Fall der Endometriose geht es hingegen um eine Therapie, um das Verhindern von chronischen Schmerzen, Verhindern von Organzerstörung und von Sterilität. Mit der Hormontherapie versuchen wir den Endometriose-Zellen das „Futter", also das weibliche Hormon Östrogen, zu entziehen und sie so zu überlisten. Ohne Östrogen sind sie deaktiviert, die Entzündung bleibt aus und die Schäden entstehen nicht. Solange wir die Ursache der Krankheit nicht kennen, ist die Hormontherapie die beste Möglichkeit, die wir haben.