Patient Empowerment
30. Mai 2022 | Kommentar(e) |
Claire Galesne
Facebook, LinkedIn, Instagram, Tik Tok: Diese sozialen Netzwerke sind Ihnen sicherlich allesamt bekannt. Und CareCircle? CareCircle ist ein soziales Netzwerk, das auf Gesundheit spezialisiert ist. Es wurde Anfang des Jahres von einem Schweizer Startup lanciert und ermöglicht seinen Mitgliedern, den eigenen Gesundheitsverlauf zu dokumentieren und Gemeinschaften aufzubauen, die sich bei gemeinsamen Gesundheitsproblemen unterstützen.
Wunderlösung zur Befähigung der Patientinnen und Patienten? Oder Albtraum für Gesundheitsfachleute, die nicht immer wissen, wie sie mit Patienten umgehen sollen, die davon überzeugt sind, dass Dr. Google besser Bescheid weiss, woran sie leiden, als ihr Arzt? Die Antwort liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen.
In diesem Blog thematisieren wir die Herausforderungen der Patientenbefähigung («Patient Empowerment») für das Gesundheitssystem.
Die Patientenbefähigung – ein Mehrwert für das Gesundheitssystem
Die Weltgesundheitsorganisation definiert die Patientenbefähigung als «Prozess, durch den die Menschen mehr Kontrolle über Entscheidungen und Handlungen erlangen, die sich auf ihre Gesundheit auswirken».
Dabei geht es um zwei Dinge: einerseits um das Erlernen von medizinischem Wissen durch die Patientinnen und Patienten, andererseits um die Anerkennung dieses Wissens und des Mitspracherechts bei den sie betreffenden Entscheidungen des Pflegepersonals. Kurz gesagt: Patienten schulen, informieren, ihnen zuhören und sie während des ganzen Behandlungsverlaufs einbeziehen.
Den Patienten eine Stimme zu geben, entspricht einem echten Bedürfnis. Wie eine aktuelle Studie über integrative Gesundheit zeigt, wollen immer mehr Patientinnen und Patienten eine aktive Rolle in ihrer Behandlung einnehmen. Werden Patienten mehr einbezogen, fühlen sie sich auch stärker verantwortlich. Die Patienten zu informieren und sie in medizinische Entscheidungen einzubeziehen, trägt zu einem kooperativeren Verhalten (Compliance) bei den Behandlungen bei. Eine höhere Compliance wirkt sich positiv auf die Behandlungsresultate aus. Ausserdem erwerben Patienten, insbesondere chronisch kranke Patienten, während ihres Behandlungsverlaufs echtes Fachwissen über das Gesundheitssystem und ihre Krankheit. Dadurch sind sie Ressourcen sowohl für ihr Pflegepersonal als auch für neue Patientinnen und Patienten – zum Beispiel über Patientenorganisationen. Entgegen der weitläufigen Meinung neigt ein Patient bei mehreren Therapieoptionen nämlich dazu, sich für die am wenigsten invasive Lösung zu entscheiden, die häufig auch die günstigere ist.
Die Patientenbefähigung – eine Umwälzung der Beziehung zwischen Pflegeperson und Patient
Auch wenn die Patientenbefähigung einen echten Mehrwert für das Gesundheitssystem bietet, so stellt sie auch eine Herausforderung dar, denn sie bewirkt eine tiefgreifende Veränderung der Beziehung zwischen Arzt/Pflegeperson und Patient.
Lange Zeit war die vorherrschende Art der Beziehung zwischen Arzt und Patient die des «Arztes als Entscheidungsträger», der dem Patienten die Diagnose und die Behandlung «aufzwang». Nach und nach und in der Absicht, den Patientinnen und Patienten mehr Autonomie zu geben, wandelte sich die medizinische Welt in Richtung «Patient als Entscheidungsträger»: Der Arzt gibt ihm die Informationen und Optionen und der Patient wählt anschliessend aus. Das ist ein Fortschritt im Vergleich zum ersten Beziehungstyp, bringt aber neue Schwierigkeiten mit sich.
Die 2021 publizierte Health Literacy Survey Schweiz 2019–2021 zeigte, dass «49 % der Schweizer Bevölkerung häufig Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Informationen und der Nutzung von Gesundheitsdiensten haben und somit eine geringe Gesundheitskompetenz aufweisen». Das Problem ist also nicht der Mangel an Informationen, sondern vielmehr die Schwierigkeit, diese auszuwerten und anzuwenden. Wie soll man bestimmen, ob online oder von Medien verbreitete Informationen vertrauenswürdig sind? Wie nutzt man die vom Arzt bereitgestellten Informationen, um mit einer chronischen Krankheit umzugehen?
Deshalb wurde ein drittes Modell entwickelt: das Partnerschaftsmodell. Der Arzt bezieht die Bedürfnisse des Patienten mit ein und begleitet ihn bei der Entscheidungsfindung. Dies erfordert mehr Zeit und Werkzeuge, um die Kommunikation zwischen Arzt und Patient zu erleichtern. Auf Patientenseite helfen Initiativen wie Smarter Medicine oder La Boussole du patient den Patienten, sich vorzubereiten und sich kompetent zu fühlen, um mit den Ärzten über ihr Krankheitsbild und die Behandlung zu diskutieren. Auf Arztseite geben die PREMs (patient reported experience measures) und die PROMs (patient reported outcomes measures) den Gesundheitsfachleuten Auskunft darüber, wie der Patient die Behandlung erlebt hat und wie sich die Krankheit und die Behandlung auf die Lebensqualität des Patienten auswirken. Ihre Verwendung kann somit dazu beitragen, die Arzt-Patienten-Beziehung und die Berücksichtigung der Patientenbedürfnisse in der Behandlungsstrategie zu verbessern.
Patientenbefähigung ist zwar mit Anstrengungen verbunden und bedeutet einen Umbruch für alle Akteure des Gesundheitssystems. Aber das Ergebnis stimmt: ein Gesundheitssystem, das den Patientinnen und Patienten hilfsbereit zur Seite steht, ihnen Verantwortung überträgt und eine proaktive Rolle bei Entscheiden hinsichtlich ihrer Gesundheit gibt.